Impuls zum 20. März 2022
Von Ferdinand Kerstiens (Marl), pax christi Münster
Befreiung
Wir alle stehen unter dem schrecklichen Eindruck des Krieges in der Ukraine. Ich weiß nicht, wie es ist, wenn ihr diese Worte lest. Putin hat den Krieg gewollt und befohlen. Es ist nicht der Krieg Russlands oder des russischen Volkes. Opfer werden viele Zivilist:innen und Soldat:innen, Männer und Frauen, Ukrainer:innen und Russ:innen. Ja, auch Russ:innen werden Opfer des Machtwahns, russische Soldaten und ihre Familien, die russische Zivilgesellschaft. Im Krieg gibt es immer Opfer auf beiden Seiten. Die pure Lebensangst treibt Menschen in der Ukraine zur Flucht bis über die Grenzen hinaus, vor allem ältere Menschen, Frauen und Kinder. Die Männer, die bleiben wollen oder müssen um zu kämpfen, wollen Waffen. Da stehen wir vor einem Dilemma: Mehr Waffen bedeuten längeres Leiden und mehr Opfer. Da gibt es Strömungen auch in pax christi, die den Ukrainer:innen nahelegen, die Waffen niederzulegen, die Okkupation zu dulden und dann sozialen Widerstand zu leisten, den Okkupanten Zusammenarbeit und Gehorsam zu verweigern. Es gibt Menschen in der Ukraine, die solchen gewaltlosen Widerstand leisten. Davor kann man nur staunen! Sie verdienen alle mögliche Unterstützung! Doch ich frage mich: Dürfen wir das von außen anraten? Wir müssen doch auch den freien Willen der Ukrainer:innen, ihren Freiheitsdrang und ihren Mut respektieren, mit dem sie sich militärisch verteidigen wollen.
Für mich ist dieses Dilemma Teil der strukturellen Sünde unserer Weltgesellschaft, in die wir alle verwickelt sind. Ich sehe mich nicht in der Lage und berechtigt, den Ukrainer:innen einen Rat zu geben. Was wir können ist: die Politiker:innen auf allen Seiten mit unserer Kraft unter Druck zu setzen, Deeskalation zu ermöglichen, die Opfer zu minimieren, Kompromisse zu suchen, damit möglichst bald die Waffen schweigen, das Töten aufhört, Verständigung, ja, Versöhnung möglich werden, wie wir das nach dem letzten Weltkrieg erfahren durften. pax christi ist selber dafür ein Beispiel, das uns von Frankreich geschenkt wurde. Wir können uns mit den Opfern solidarisieren, demonstrieren, beten, spenden und den Geflüchteten helfen, auf jeden Fall: den Krieg von den Opfern her sehen, nicht vom internationalen Machtkalkül. Wir dürfen die Russ:innen nicht verteufeln. Wir müssen auch zu unserer Ohnmacht stehen.
Die Berichte aus der Ukraine wühlen mich persönlich sehr auf, weil ich das alles im Alter von 8 bis 12 Jahren selber erlebt habe. Das kommt alles wieder hoch: Die Luftangriffe in Düsseldorf im Keller; Bomben, Luftminen und Brandbomben nebenan; am Morgen Lauf durch die immer noch brennenden und einstürzenden Häuser, um zu schauen, ob meine Freunde noch lebten; Tieffliegerangriffe auf alles, was sich bewegt; nach dem großen Angriff auf Oberhausen und Duisburg zu Fuß von Oberhausen mit meiner Mutter durch die brennenden Städte zurück nach Kaiserswerth; Abtransport aus der Kriegszone, der dann aber nicht klappte; sechs Wochen im Keller eines Krankenhauses mit ca. 30 Personen auf Strohschütte bei zum Teil pausenlosen Beschuss der alten romanischen Basilika direkt daneben … Ich sehe mich in den Kindern wieder, deren Bilder wir heute sehen ...
Wo finden wir Antworten, die tragen, die Hoffnung stiften und Zukunft ermöglichen? Da trifft uns die heutige Lesung (hier etwas gekürzt):
Ex 3,7-8a.13-15
Der Herr sprach zu Mose: Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen, und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes, weites Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fließen.
Da sagte Mose zu Gott: Ich werde also zu den Israeliten kommen und ihnen sagen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt. Da werden sie mich fragen: Wie heißt er? Was soll ich ihnen darauf sagen? Da antwortete Gott dem Mose: Ich bin der „Ich-bin-da“. Und er fuhr fort: So sollst du zu den Israeliten sagen: Der „Ich-bin-da“ hat mich zu euch gesandt. Weiter sprach Gott zu Mose: So sag zu den Israeliten: Jahwe, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jacobs, hat mich zu euch gesandt. Das ist mein Name für immer, und so wird man mich nennen in allen Generationen.
Wenn ich im Auto sitze und sehe einen Polizisten, dann denke ich automatisch: Was habe ich falsch gemacht? Gleich wird er dich anhalten! Bei manchen Leuten ist auch das Gottesbild so geprägt. Die Älteren haben es ja früher so gelernt: „Ein Auge ist, das alles sieht, auch was in dunkler Nacht geschieht.“ Gott war der allgegenwärtige Polizist, der alles sieht, jeden Fehler, und sofort ein Protokoll aufnimmt. Ein schrecklicher Gott, den man nur fliehen kann, ein schrecklicher Gott, vor dem man nicht fliehen kann!
Doch es gibt auch eine andere Erfahrung: Ein Kind wird nachts wach. Es hatte Angstträume. Es ruft nach seiner Mutter, seinem Vater. Die hören das Schreien, kommen und sehen danach, was dem Kind fehlt. Wenn das Kind die Eltern sieht, kann die Angst langsam weichen. Wenn jemand kommt und mit Liebe mich in meiner Not sieht, dann ist nicht einfach die Angst weg oder die Krankheit geheilt. Aber das Kind oder der Kranke wird schon ruhiger: Da ist jemand, dem man vertraut, der es gut mit einem meint, der helfen kann. Er/Sie sieht mich nicht nur mit den Augen, sondern mit einem verstehenden Herzen. Der Bann der Krankheit ist dann schon gebrochen, auch wenn der herbeigerufene Arzt noch nichts getan hat. So gehört und gesehen werden, ist schon der Anfang der Heilung.
Gott hört und sieht
Auf diese Weise sieht und hört Gott nicht wie der allgegenwärtige Polizist. „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und seinen Aufschrei gegen seine Unterdrücker gehört." So offenbart sich Gott dem Mose. Damit ist die Knechtschaft noch nicht beendet. Aber ihr Bann ist gebrochen! Ihr Ende ist angekündigt! Ein neuer Beginn ist gemacht. Gott geht es um jeden einzelnen Menschen, aber immer zugleich um das ganze Volk, um alle Menschen. Er sieht das Elend seines Volkes und hört seinen berechtigten Schrei. Da ist es nur konsequent, wenn die Gottesrede fortfährt: „Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreißen." Dies ist für Israel zur tröstlichen Gewissheit geworden durch seine ganze wechselvolle Geschichte hindurch: Gott sieht das Elend seines Volkes, und er ist bereit, sich einzusetzen. Er will nicht das Elend und will keine Knechtschaft. Er will zum Leben führen, zur Freiheit. Israel hat dieses Gedächtnis seiner Befreiung wie ein kostbares Erbe bewahrt und immer wieder daraus Hoffnung und Kraft geschöpft. Die Psalmen, die Propheten haben daran erinnert und das Volk aus aller Ohnmacht, aus aller Schuld geweckt und zu neuem Aufbruch motiviert.
So heißt es in dem Aaronitischen Segen: „Der Herr lasse sein Angesicht über dir leuchten und sei dir gnädig. Der Herr wende dir sein Angesicht zu und gewähre dir Heil.“ (Num 6, 25f). So dürfen wir einander segnen. Um diesen Segen dürfen wir Gott auch für die Menschen in der Ukraine bitten.
Basisgemeinden
Die Basisgemeinden Lateinamerikas entstanden und leben heute in diesem Vertrauen, die vielen „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“ in Afrika und Asien, auch Christinnen und Christen in der Ukraine: Gott sieht unser Elend und er hört unser Schreien! Er will nicht unsere Ohnmacht, unsere Knechtschaft, unser Leiden. Er will auch uns in die Freiheit, er will auch uns zum Leben führen! So finden sie immer wieder neu die Kraft aufzubrechen, um mehr Leben zu kämpfen. Ich habe es immer wieder oft bei unseren Besuchen in Brasilien gehört: „Wir wollen nicht in ein anderes Land ziehen, wo wir andere Menschen vertreiben müssten. Hier ist unser verheißenes Land. Hier müssen wir die Strukturen Ägyptens, die Strukturen der Unfreiheit und der Sklaverei überwinden." So feiern sie ihre kleinen Siege mit großen Festen und Gottesdiensten. Denn sie wissen Gott in ihrer Mitte. So fühlen auch die Ukrainer:innen: hier ist unser verheißenes Land. Hier wollen wir in Freiheit leben und so sollen auch die Russ:innen in ihrem Land in Freiheit leben.
Wir
Doch eine bedrängende Frage kann ich nicht verschweigen: Auf wessen Seite stehe ich, stehen wir wirklich? Wenn die Armen in den Ländern des Südens sich in der Knechtschaft der Mächtigen dort und der Weltwirtschaftsunordnung sehen, wenn sich die Ukrainer angesichts des russischen Überfalls wie das Volk Israel damals in der Knechtschaft Ägyptens sehen, wo stehe dann ich? Gehören wir zu den Mächtigen in „Ägypten“? Ich denke, wir sind in der Regel nicht Täter der Unterdrückung, wohl aber deren Nutznießer. Wenn also die Völker dort sich befreien, wenn die Ukrainer um ihre Freiheit kämpfen, wenn Wirtschaftssanktionen gegen Russland auch unseren Wohlstand minimieren, dann berührt das auch uns, unsere/meine Freiheit und unsere/meinen Wohlstand. Sind wir dazu bereit? Auch der Frieden kostet – damit meine ich nicht die 100 Milliarden Euro für das Militär.
Wenn wir zu diesem Gott gehören wollen, müssen auch wir sehen und hören und dürfen uns nicht verstecken: Die Opfer in der Ukraine, die Wohlstandsopfer in der weiten Welt, die Armen unter uns fordern unser Sehen und Handeln! Die Zahl der Opfer nimmt stetig zu. Langsam dämmert das vielen in unserer Gesellschaft auf.
Ich bin da
Auf all diese Fragen und Anfragen gibt es keine leichten Antworten. Aber wir dürfen die Geschichte des Auszugs aus Ägypten und der Befreiung aus der Knechtschaft nicht bloß wie einen spannenden Bericht aus längst vergangenen Zeiten hören, so als ob er uns nichts anginge. Er betrifft uns und unsere Zeit. Diese Geschichte spielt sich vielfach neu ab, mitten unter uns, auf der einen Welt. Mose fragt sein Gegenüber nach seinem Namen. Und Gott antwortet: „Ich bin der Ich-bin-da!" Er ist da, wie er immer wieder da sein wird, aber auf jeden Fall an der Seite der Unterdrückten, damals und heute, aber oft verborgen, wie abwesend und ohnmächtig. Er ist nicht manipulierbar seitens der Menschen, schon gar nicht als der verfügbare Gott der Mächtigen. Wer diesem Gott begegnet, wird selber ein anderer Mensch, ein Mensch auf der Seite dieses Gottes, der sieht und hört und kommt, die Not zu wenden. Nur so kann Frieden entstehen, immer wieder neu.
Gebet
Gott, wir danken dir,
dass du kein Gott bist,
der aus göttlicher Herrlichkeit und Weltenferne
auf das Elend der Menschen herabsieht,
sondern dass du das Elend und die Not siehst
und Partei ergreifst für die Unterdrückten.
Zeige dich auch heute als dieser Gott!
Bekehre die Mächtigen, die auf ihr Recht pochen
und dabei Menschen und Völker überfallen,
unterdrücken und ausbeuten.
Hilf, dass alle Menschen erfahren,
dass überall das versprochene Land ist,
wo sie leben können in Freiheit und Fülle,
heiliger Boden, wo wir dir begegnen.
Zeige dich auch heute als dieser Gott!
Nimm alle Religionen,
alle christlichen Kirchen dafür in Dienst!
Lass sie nicht über die Menschen herrschen,
sondern ihnen zum Leben dienen
in Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden.
So bitten wir durch und mit Jesus, unserem Bruder,
dem Zeugen deiner Menschenfreundlichkeit und Liebe,
mächtig und ohnmächtig in seinem solidarischen Leben und Sterben.
Du hast ihn bestätigt durch die Auferweckung zu dir
als Zeichen der Hoffnung auch für uns.
AMEN!